Heiligenstockschule / Hofheim

THEMA DES TAGES / Unterwegs zur Inklusion

Frankfurter Rundschau vom 26.05.2010

 

THEMA DES TAGES / Unterwegs zur Inklusion / Der Main-Taunus-Kreis ist Vorreiter beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Schüler.
Jetzt gilt es, die Ziele
der UN-Konvention umzusetzen.

Paul lernt mit

Heiligenstockschule integriert auch Kinder mit Beeinträchtigung

Von Andrea Rost

Im Deutschunterricht geht es heute um Adjektive: hundemüde, blitzschnell, stinksauer, steinreich. "Wie nennt man diese Wörter?", will Christiane Feuerbach wissen. "Zusammengesetzte Adjektive", sagt ein Junge. Die Klasse 5a ist konzentriert bei der Sache. Nach und nach kommen die Schüler an die Tafel, ordnen die zusammengesetzten den dazu passenden einfachen Eigenschaftswörtern zu. Auch Paul streckt die Hand in die Höhe, er wird von einem Mitschüler drangenommen. "Hundemüde gehört zu müde", sagt Paul und geht stolz an seinen Platz zurück.

Paul sitzt mit vier anderen Schülern an einem runden Tisch in der Mitte des Klassenraums. Neben ihm hat Reinhard George- Bergen Platz genommen. Er ist Sonderpädagoge und Konrektor an der Hofheimer Heiligenstockschule. Seit über 17 Jahren arbeitet er zusammen mit Lehrerin Christiane Feuerbach in Integrationsklassen, in denen Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Die beiden sind ein eingespieltes Team.

Paul hat sonderpädagogischen Förderbedarf, eine allgemeine kognitive Schwäche wurde bei ihm diagnostiziert, als er in der zweiten Klasse war. Paul kann nicht so schnell rechnen wie seine gleichaltrigen Mitschüler, vor allem bei Textaufgaben verheddert er sich häufig. Besser läuft es im Deutschunterricht, nur hin und wieder tut sich der Elfjährige schwer, Texte zu verstehen.

Ein bis zwei Jahre sei Paul seinen Klassenkameraden beim Lernen hinterher, sagt Reinhard George-Bergen. "Aber das können wir in vielen Fällen auffangen, indem ich Paul bei den Aufgaben unterstütze. Oder er bekommt anderes Lernmaterial, mit dem er besser zurechtkommt."

Dass Paul während des Deutschunterrichts von Reinhard George-Bergen speziell betreut wird, fällt kaum auf. Auch andere Schüler fragen den Sonderpädagogen um Hilfe, wenn sie bei einer Aufgabe nicht weiterwissen. Paul arbeitet währenddessen selbstständig weiter, schwätzt auch mal mit seinem Sitznachbarn, lacht.

Fünf der 21 Schülerinnen und Schüler in der Klasse 5a sind sogenannte Integrationskinder. Ein Mädchen kann kaum lesen. Während die anderen sich im Deutschunterricht mit zusammengesetzten Adjektiven beschäftigen, übt die Elfjährige Anlaute zu sprechen. Reinhard George-Bergen hat dafür ein Blatt mit bunten Bildern mitgebracht. Ein Junge trägt ein blaues Hörgerät, für ihn wurde eine spezielle Akustikdecke im Klassenraum eingezogen.

Etwas abseits von den anderen sitzt ein schmaler Junge mit Brille. Auf eigenen Wunsch habe er sich diesen Platz ausgesucht, sagt Christiane Feuerbach. Der Schüler lasse sich leicht von anderen ablenken, sei oft hippelig und unkonzentriert. "So fällt ihm das Arbeiten leichter."

Paul kaut an seinem Bleistift. Das Arbeitsblatt über die zusammengesetzten Adjektive hat er zur Hälfte fertig. Er ist genau so weit wie der Schüler neben ihm. Reinhard George-Bergen klopft ihm anerkennend auf die Schulter. Paul strahlt.

Das Mädchen, das lesen übt, hat eine Frage. Der Lehrer geht mit der Schülerin nach hinten in die Klasse. Ein paar Worte werden gewechselt, das Problem ist schnell gelöst. Das Mädchen läuft zurück an seinen Platz.

Als erster ist der Junge mit dem Hörgerät mit den Adjektiv-Übungen fertig. "Alles richtig", sagt er, geht zum Lehrertisch und stempelt sein Arbeitsblatt ab. "Quatsch´ nicht so viel!", ermahnt Reinhard George-Bergen einen Schüler, der mit seinem Sitznachbarn redet, "hier ist ein Fehler. Und denk´ dran, das Datum auf das Blatt zu schreiben!"

Paul lernt mit

Christiane Feuerbach geht von Tisch zu Tisch, hakt Übungssätze ab, guckt dem Jungen mit der Brille über die Schulter.
Er liest die Sätze auf dem Arbeitsblatt laut vor, schreibt dann alles flott ab. "Hei, ich bin fertig!", ruft er in die Runde.

Es gibt Fächer, da geht Reinhard George-Bergen mit den Integrationskindern auch mal in einen anderen Klassenraum. Mathematik ist so ein Fach. "Vier Schüler und drei Leistungsgruppen", sagt er und schmunzelt. "Das würde in der großen Klasse nicht klappen." In Kunst, Musik und Sachfächern hingegen werden meist alle Schüler gemeinsam unterrichtet. Dann steht auch in den Integrationsklassen nur ein Lehrer vorne an der Tafel.

Reinhard George-Bergen sieht auf die Uhr. "Wollen wir mit Deutsch Schluss machen?", fragt er seine Kollegin. Die nickt. "Ja, jetzt kommt Biologie dran", sagt Christiane Feuerbach.

Doch vorher werden noch Ordner ausgeteilt. "Gedichtwerkstatt" steht drauf. Für die Projektarbeit haben die Fünftklässler Noten bekommen. Paul blättert schnell nach hinten. "Eins minus, ja!", ruft er und reißt die Arme in die Höhe. Paul und die anderen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden nach einem speziellen Notensystem beurteilt. Es nimmt auf Stärken und Schwächen der Schüler Rücksicht und basiert auf den Lehrplänen von Schulen für Lernhilfe und praktisch Bildbare. Die Lernziele messen sich an den Fähigkeiten der einzelnen Kinder. Nach außen unauffällig wird so das Manko einer Lernschwäche ausgeglichen. Unter den Schülern seien die Leistungsunterschiede allerdings ohnehin kein großes Thema, sagt Reinhard George-Bergen. "Die finden nichts dabei, dass einer etwas nicht so gut kann. Dass man sich gegenseitig hilft, ist bei uns ganz normal."

Bis zum Ende der sechsten Klasse können Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Heiligenstockschule den gemeinsamen Unterricht besuchen. Unter den 421 Schülern sind zurzeit 36 Integrationskinder. Besonders nach der Grundschule ist der Andrang aus dem ganzen Kreis groß. Dabei passiert es gar nicht selten, dass sich ein lernschwaches Kind so gut entwickelt, dass ihm nach ein paar Jahren der sonderpädagogische Förderbedarf aberkannt wird. Für mehr als die Hälfte der Integrationskinder trifft das an der Heiligenstockschule zu.

Reinhard George-Bergen verbucht das als Erfolg, führt es auf die gute Förderung im gemeinsamen Unterricht zurück. Wenn auch ein Wermutstropfen bleibt: Das Schulamt bewilligt in der Folge erst mal weniger Stunden für Sonderpädagogen im gemeinsamen Unterricht.

Der elfjährige Paul muss sonderpädagogisch gefördert werden.
Er ist an der Hofheimer Heiligenstockschule in den Regelunterricht integriert.
Rolf Oeser (2)

Reinhard George-Bergen gibt Paul Lernhilfe.

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